»Wenn wir gewinnen, gibt es ein Schaf!«
Für Yassine Maingad bedeutet Fußball alles: Mit 17 Jahren kommt der Marokkaner nach Deutschland - und hat seine Familie seit acht Jahren nicht gesehen. Der Fußballer des FC Gießen erklärt vor dem heutigen WM-Halb- finale, warum das Leben in Marokko schwer ist und der Fußball allen Stress vergessen lasse.
Darf ich Dich was fragen: Hast Du Kinder?«, fragt Yassine Maingad mitten im Telefonat. »Kannst Du dir vorstellen, wie es ist, seine Familie acht Jahre lang nicht zu sehen? Das kann man keinem erzählen...«
Seit seiner Reise aus Marokko nach Deutschland als 17-Jähriger hat der Fußballer des FC Gießen, Yassine Maingad, seine in der Nähe von Agadir lebende Familie nicht mehr gesehen - für den großen Traum, in Europa der Freiheit zu folgen.
»Ich bin trotzdem froh, hierher gekommen zu sein. Ich habe eine Ausbildung machen dürfen und setze mich nun dafür ein, einen Arbeitsvertrag zu bekommen. Es ist nicht immer leicht, aber ich bin gerne hier. Denn in Marokko ist das Leben anders. Arbeiten kannst du dort immer - aber deinen Wünschen zu folgen, das ist schwer.«
Schnell erhellt sich das Gemüt des 25-Jährigen, wenn er über seinen Fußball spricht: »Das Leben ist schwer - aber wenn unsere Nationalmannschaft gewinnt, dann vergessen wir alle den Stress. Für uns ist Fußball in Marokko einfach alles!«
Dass die kickenden Nationalhelden als erste afrikanische Mannschaft der Geschichte in ein Halbfinale einer Fußball-Weltmeisterschaft eingezogen sind und heute Abend (20 Uhr, live im ZDF) gegen Frankreich das Endspiel erreichen können, ist für Yassine Maingad immer noch nicht so recht zu glauben.
Ganz nervös erzählt der Waldstadion-Fußballer davon, was passiere, wenn auch die »Grande Nation« bezwungen werde: »Ich schaue die Spiele meist bei einer befreundeten marokkanischen Familie in Frankfurt. Da sind wir immer so zehn, elf Leute. Die Mutter schaut nervös aus der Küche immer mal vorbei und kriegt alles mit. Bei jeder Aktion schreit jemand. Und wenn ein Tor für uns fällt, springen wir alle auf, umarmen uns und schreien herum. Der Vater der Familie hat gesagt: ›Wenn wir Frankreich schlagen, bringe ich am Sonntag zum Endspiel ein Schaf mit!‹«
Der Mittelfeldspieler des FC Gießen ist sich sicher: »Wenn wir Frankreich schlagen, dann können wir auch Weltmeister werden!«
Warum auch nicht? Gegen Kroatien, Belgien, Spanien und Portugal blieb das Team von Trainer Walid Regragui ohne Gegentor. »Er hat dafür gesorgt, dass wir wie eine Familie spielen«, sagt Maingad. »Wir haben einen guten Trainer. Er hat organisiert, dass alle Familien der Spieler mit nach Katar kommen und immer vor Ort dabei sind. Egal wer spielt, jeder gönnt es jedem. Die Menschen sagen, dass unser Erfolg glücklich sei. Aber das ist kein Glück. Wir haben bisher bei der ganzen WM erst ein Gegentor kassiert. Wir kämpfen füreinander. Und wir sind bei Freistößen und Ecken sehr gefährlich.«
Der Großteil der rund 37 Millionen Einwohner Marokkos wird heute Abend auf irgendeinem Wege dabei sein, wenn es gegen Frankreich um den größten Erfolg der nationalen Fußballgeschichte geht: »Viele Marokkaner leben in Frankreich. Für uns ist das wie ein Derby.«
Der Fußball bringt Leichtigkeit ins Leben des Yassine Maingad - »jeder, der Fußball spielt, weiß, wie toll das ist: Du lernst neue Menschen kennen, einfach so. Du lachst zusammen, Du spielst zusammen...«
Als seine besten Freunde bezeichnet er seine Teamkollegen Keanu Hagley und Michael Gorbunow, mit denen er auch im Frankfurter Stadtteil Heddernheim wohnt. Gemeinsam bilden sie eine Fahrgemeinschaft ins Gießener Waldstadion - mit dem FC steht das Trio zur Winterpause auf Rang zwei der Hessenliga. Mit acht Treffern und sieben Vorlagen hat der Marokkaner seinen Teil dazu beigetragen, dass der Regionalliga-Aufstieg möglich erscheint. Diesen bezeichnet Maingad als »großes Ziel. Natürlich.«
Dass er über Regionalliga-Träume sprechen kann, verdankt der flüssig deutsch redende Maingad einer »unglaublichen« Geschichte. Bis zum Alter von 17 Jahren kickt er in Marokkos höchster Jugendliga und reist dann zu einem Jugendturnier nach Frankreich. Dort werden dank der fußballerischen Fähigkeiten Kontakte geknüpft, die eine Reise nach Deutschland ermöglichen.
Mit drei weiteren Freunden kommt Yassine Maingad in einem Flüchtlingsheim unter. »Das erste Jahr war schwer, weil wir getrennt wurden und uns zurechtfinden mussten. Ich habe zwar nebenbei Fußball gespielt (in Schwanheim und Zeilsheim, Anm. d. Red.), aber ich musste immer spätestens um 21 Uhr zurück sein im Flüchtlingsheim. Das war schwierig. Es gab keine Ausnahmen. Als die Abschiebung drohte, habe ich eine Ausbildungsstelle als Raumausstatter bekommen. Ich habe mich immer an die Regeln gehalten. Jetzt ist meine Ausbildung fertig und ich hoffe auf einen Arbeitsvertrag. Ich habe das Land seit acht Jahren nicht verlassen.«
Nach Deutschland gekommen und geblieben sei er, weil das Leben in Marokko »nicht leicht« sei. »Wenn du ein Kind bist, ist es einfach: Du gehst zur Schule und spielst Fußball. Wenn du dann älter wirst, merkst du: Das ist hart. Ja, du kannst Brot essen. Aber deine Ziele zu verfolgen, das ist schwer. So ist es auch im Fußball: Wir haben viel Talent. Aber es hilft dir keiner. Um weiterzukommen, brauchst du Verbindungen. Deshalb will jeder nach Europa.«
Die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat bleibt - Yassine Maingad will als erwachsener Mann zurückkehren. Mit seiner Familie hält er über WhatsApp Kontakt - auch wenn die Fußball-WM und der Erfolg der Nationalmannschaft acht Jahre nicht vergessen machen und die Maingads schwerlich zusammenbringt, lässt es die Familie innerlich doch ein Stück näher zusammenrücken.