Fehlerketten und viele Baustellen

Sport 1-Chefreporter Patrick Berger aus Büdingen spricht über das WM-Aus und die Heim-EM 2024.
Büdingen (tfr). Ursprünglich sollte Sport 1-Chefreporter Patrick Berger bis zum 19. Dezember in Katar bleiben und über möglichst viele erfolgreiche Spiele der deutschen Fußball-Nationalmannschaft während der Weltmeisterschaft (WM) berichten. Aufgrund des überraschenden Scheiterns in der Gruppenphase trat der gebürtige Büdinger unerwartet früh die Heimreise an - und berichtet nun in Deutschland über die Folgen des Scheiterns der DFB-Elf. Im Kreis-Anzeiger nennt der 30-Jährige die Gründe für das Vorrunden-Aus, spricht über das Gastgeberland Katar und sagt, was sich bis zur Europameisterschaft 2024 ändern muss.
Deshalb ist das DFB-Team in der Vorrunde gescheitert: Wir sprechen hier von einer größeren Fehlerkette. Allerdings muss ich auch sagen, dass die deutsche Mannschaft in allen drei Spielen eigentlich nicht so schlecht agierte, gegen Spanien sogar eine richtig gute Leistung zeigte. Gegen Costa Rica wurde es nach einer gewissen Phase etwas wild, dennoch ist der Mannschaft auch in diesem Spiel nicht viel vorzuwerfen. Es waren am Ende die 20 schlechten Minuten gegen Japan. Wenn man einmal auf die Zahlen schaut, fällt auf, dass Deutschland mit 67 Torversuchen die meisten aller Teams in der Vorrunde hatte. Nur: Wenn die Offensivkräfte daraus nur sechs Tore machen, ist das einfach zu wenig. Die letzte Konzentration und der letzte Biss vor dem Tor fehlten. Am Ende muss man auch sagen, dass die deutsche Abwehr ganz weit vom Weltklasse-Niveau entfernt war, viele Fehler machte und sich die Bälle teilweise selbst reinlegte.
Trainer Hansi Flick war auch nicht ganz fehlerfrei. Viele falsche Wechsel im Spiel gegen Japan, zum Beispiel Leon Goretzka für Ilkay Gündogan, führten zu einem Bruch im Spiel. Mit seinen Einwechslungen wollte Flick es allen Spielern recht machen. Es entstand generell der Eindruck, dass es Flick allen Spielern zu sehr recht machen wollte, zu sehr am Bayern-Block und vor allem an Thomas Müller festhielt. Für mich war ein großer Fehler, Niclas Füllkrug nicht in der Startelf zu bringen. Diese Verkettung vieler Umstände führte schließlich dazu, dass das DFB-Team schon in der Vorrunde scheiterte.
Und nicht zu vergessen: die Diskussion über das Tragen der »OneLove«-Binde. Der DFB setzte das Team einem öffentlich Druck aus und ließ es einen Tag vor dem Japan-Spiel mit der Entscheidung alleine. Das sorgte für einen Streit unter den Spielern. Auf der einen Seite die Fraktion Neuer/Goretzka, die für das Tragen der Binde waren. Auf der anderen Seite die Fraktion Gündogan/Rüdiger. Am Ende einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und die »Mund-zu-Geste«. Diese Aktion führte sicherlich zu einem Riss im Team.
Das muss sich jetzt ändern: Grundsätzlich muss sich beim DFB etwas ändern. Stichwort falsche Ausbildung: In den vergangenen Jahren wurde viel Wert auf Talente im Offensivbereich gelegt, andere Dinge stattdessen vernachlässigt. Jetzt haben wir kaum noch Verteidiger auf Weltklasse-Niveau - gerade das zeichnete die deutsche Mannschaft über Jahrzehnte aus. Auch das Land der Mittelstürmer mit Gerd Müller, Uwe Seeler, Miro Klose und Co. hat plötzlich keinen richtigen Neuner mehr. Das sind grundlegende Dinge, die in der Nachwuchs-Ausbildung verändert werden müssen.
Zudem sollte sich der DFB mehr öffnen, da sind auch die Spieler gefragt. Mehr Bodenständigkeit und Kommunikation mit den Fans ist gefragt. Es kann nicht sein, dass das Team bei einer Weltmeisterschaft 100 Kilometer entfernt von Doha komplett abschottet residiert. Das sahen übrigens auch einige Spieler so, mit denen ich während der WM sprach. Sie sagten, dass das Quartier gut sei, um Urlaub zu machen. Sie hatten aber, abgesehen von ein paar Fähnchen rund um das Gebäude, nie das Gefühl, bei einer WM zu sein.
Folgende Personen müssen zurücktreten: Oliver Bierhoffs Rücktritt als DFB-Direktor ist richtig, hätte sogar schon früher stattfinden müssen. Wir sollten aber nicht nur draufhauen, weil er eine Art Visionär war und viele Änderungen herbeigeführt hat. Ich würde sogar behaupten, dass der Titel 2014 ohne Bierhoff nicht möglich gewesen wäre. Trotzdem waren die letzten Jahre von Missmanagement geprägt. Ich finde auch, dass Teammanager Thomas Beheshti und der Sportliche Leiter Panagiotis »Joti« Chatzialexiou in Frage gestellt werden müssen. Es wäre wichtig, dass jetzt Menschen mit klaren Ideen und Strukturen Ämter beim DFB übernehmen. Es braucht Leute wie Fredi Bobic, der Dinge anspricht, aneckt und unbequem ist. Bobic zusammen mit Sami Khedira oder Per Mertesacker als Sportlicher Leiter - das könnte passen. Der erste Schritt wurde unter der Woche mit der Bildung einer DFB-Taskforce getan. Weitere müssen folgen.
Ich bin kein Typ, der Spielerrücktritte fordert. Aber ich glaube, dass die Zeit von Thomas Müller und Manuel Neuer, den ich sehr habe wackeln sehen während der WM, vorbei ist. Auch wenn sie verdiente Spieler sind, sollten sie Platz für junge und frische Kräfte machen.
Es ist richtig, dass das deutsche Team mit Trainer Hansi Flick die Heim-Europameisterschaft 2024 bestreiten wird: Hansi Flick ist sehr selbstkritisch und weiß, dass er viele Fehler gemacht hat. Trotzdem gibt es momentan keinen besseren Trainer. Jürgen Klopp ist nicht frei. Und Thomas Tuchel mag zwar ein guter Trainer sein, aber er ist kein Menschenfänger, der eine ganze Nation hinter sich bringt. Ich bin allerdings skeptisch, ob uns die Nationalmannschaft eine tolle Heim-EM bescheren wird. Die Entfremdung ist groß, die Nation steht nicht so wie vor sieben, acht Jahren hinter den Stars und dem Team.
Ich sehe Talente wie Jamal Musiala und Florian Wirtz, um die eine Mannschaft gebaut werden muss. In der Abwehr ist Antonio Rüdiger gesetzt, die Doppel-Sechs steht mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka. Über die restlichen Plätze sollte man genau nachdenken und diese bestmöglich besetzen.
Tatsächlich sollten 2024 die besten Akteure spielen. Aber Spieler wie Niclas Füllkrug und Robin Gosens, die nicht so den vorgegebenen Karriereweg hatten, sich über Umwege durchbissen und ein bisschen nahbar sind, sollten ebenfalls dabei sein. Ich glaube, nach diesen Protagonisten sehnen sich die Leute.
So hat sich Katar als WM-Gastgeberland präsentiert: Ich war positiv überrascht von der WM-Stimmung vor Ort. Die Menschen in Katar sind schon interessiert, aber eher an Vereinsmannschaften wie Manchester City, Bayern München oder Paris. Sie drücken den Star-Nationen wie Argentinien und Brasilien die Daumen. Die deutsche Mannschaft war anfangs ein sehr gern gesehener Gast. Das änderte sich allerdings im Laufe der Vorrunde durch die politischen Botschaften, die das deutsche Team senden wollte. Ich weiß noch, wie sich die Taxi- und U-Bahn-Fahrer über das DFB-Team lustig gemacht haben. Der Tenor: Die Spieler sollten sich lieber auf den Fußball konzentrieren und nicht in politische Dinge einmischen.
Unter dem Strich war es ein interessantes, ein anderes Turnier. Die WM-Stimmung war auf jeden Fall da, vor allen Dingen dank der argentinischen, brasilianischen und mexikanischen Fans. Ganz anders sah es bei den Deutschen, Holländern und Dänen aus, die dieser WM sehr kritisch gegenüberstanden und deshalb kaum nach Katar reisten. Einige Südamerikaner fragten mich sogar, warum so wenig Deutsche bei der WM seien. Sie wussten nichts von den politischen Begleitumständen.
Etwas befremdlich war, dass Fans aus Ecuador vor dem Eröffnungsspiel von der besten WM aller Zeiten sprachen und den Gastgeber lobten. Im Gespräch mit diesen Fans stellte sich heraus, dass sie Flüge und Unterkunft vom Gastgeber bezahlt bekamen, um für gute Stimmung zu sorgen.
Ansonsten ist mir Katar nicht sonderlich negativ aufgefallen. Das ist aber auch nicht verwunderlich. Wenn die ganze Fußball-Welt auf einen schaut, präsentiert sich das Land in dieser Zeit als guter Gastgeber. Ich habe auch versucht, hinter die Kulissen zu schauen, führte Gespräche mit Gastarbeitern aus Nepal, Bangladesh und Indien. Manche sind hier seit 15, 16 Jahren glücklich, freuen sich über ihren sicheren Job. Andere fühlen sich nicht wohl, wollen dort nur Geld verdienen und dann wieder schnell zurück in ihre Heimat.