Ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan: „Meine Theorie ist, dass es einen Bürgerkrieg geben wird“

Überstürzt zogen sich die internationalen Truppen im August 2021 aus Afghanistan zurück. Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi fürchtet eine weitere Eskalation.
Bonn – Die Bilder der verzweifelten Menschen am Flughafen Kabul, nach dem völlig überstürzten Abzug der internationalen Truppen, brannten sich in die Augen der Weltöffentlichkeit. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist am 15. August 2022 ein Jahr her. Zwölf Monate später ist von der damaligen Anteilnahme wenig geblieben, auch weil sich die Krisen vor der eigenen Türschwelle des Westens stapeln: Der russische Invasionskrieg in der Ukraine, die Energiekrise, der Machtkampf mit China.
Mit der deutsch-afghanischen Journalistin und Autorin Waslat Hasrat-Nazimi spricht FR.de von IPPEN.MEDIA über Frauenrechte, den Einfluss von China und Russland in Afghanistan und darüber, wie es mit den Taliban weitergeht. Ihr Buch „Die Löwinnen von Afghanistan: Der lange Kampf um Selbstbestimmung“ erscheint am 16. August 2022 im Rowohlt-Verlag.
In den ersten Wochen war die internationale Aufmerksamkeit und Anteilnahme für Afghanistan groß. Mir war natürlich klar, dass diese abebben wird, aber dass es so schnell ging ... das hat sehr viel mit mir gemacht.
Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban erneut die Macht in Afghanistan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt und die folgende Zeit erlebt?
Ehrlich gesagt habe ich diese Tage immer noch nicht verarbeitet. Das war eine schockierende, traumatisierende Zeit für alle, die mit Afghanistan zu tun haben oder in Afghanistan waren. Natürlich kam die Machtübernahme der Taliban nicht komplett überraschend. Ich habe immer zu meinen Kolleginnen und Kollegen gesagt, dass die Taliban bald wieder an der Macht sein werden. Wochen vor dem 15. August fielen bereits einzelne Provinzen, uns war also klar, dass sich die Lage kontinuierlich verschlechtern wird. Zum Glück haben wir bereits damals begonnen, unsere Leute und ihre Angehörigen herauszuholen. Die Evakuierungen waren das, woran wir uns in diesen Tagen und Wochen festhielten, die uns Hoffnung und Sinn gaben. Gleichzeitig haben wir dadurch die Situation selbst in Afghanistan zur Seite geschoben. Noch immer sind unsere Evakuierungen nicht abgeschlossen. Deshalb habe ich mich bis heute nicht wirklich damit befasst, was eigentlich passiert ist. Auch, wenn ich trauere – um die Hoffnungen, die wir für das Land hatten.
In Ihrem Buch haben sie geschrieben, dass Ihre Mutter bis kurz vor Taliban-Machtübernahme zu Besuch in Kabul war.
Als sie in Kabul war, habe ich regelmäßig mir ihr telefoniert und ihr gesagt: Bitte komm zurück. Aber sie war überzeugt, dass sie in Kabul sicher ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schnell man aus den Augen verliert, was in den Provinzen passiert, wenn man sich in dieser Bubble aufhält. Man fühlte sich dort unangreifbar. Am Ende war es meine kleine Tochter, die sie zu einer früheren Rückkehr bewegte, die weinte und sagte, Oma, komm jetzt zurück. Das war kurz vor dem 15. August. Wir hatten Glück, ich weiß von vielen, die im Land feststeckten. Das konnte man sich ja bis kurz vor Machtübernahme gar nicht vorstellen. Meine Mutter dachte ja auch, sie könne immer noch raus, wenn die Taliban vor Kabul stünden. Aber nein, so war es nicht.
Ein Jahr ist seitdem vergangen, die Taliban regieren Afghanistan. Was hat sich verändert? Wie geht es den Menschen im Land?
Die wirtschaftliche Lage ist sehr schlecht, noch schlechter, als man die ersten Wochen nach dem 15. August dachte. Die meisten Menschen leben unter der Armutsgrenze. Jetzt gibt es die ersten Bemühungen, wieder Geld in das Land zu schaffen und Sanktionen zumindest teilweise aufzuheben. Man kann die Menschen dort ja nicht hungern lassen, denn es ist immer die Bevölkerung, die am meisten unter Sanktionen leidet. Und dann natürlich die Tatsache, dass Mädchen ab der sechsten Klasse weiterhin nicht zur Schule gehen dürfen. Das ist für viele Familien ein Grund, sich gegen die Taliban zu wenden, selbst die, die am Anfang dachten, dass nun wenigstens die Amerikaner weg seien und Ruhe herrsche. Die meisten wollen deshalb das Land verlassen. Ich kenne niemanden persönlich, der bleiben möchte.
Gleichzeitig beschreiben Sie in Ihrem Buch „Die Löwinnen von Afghanistan“, dass es Menschen gibt, die die Taliban-Machtübernahme begrüßt haben. Können Sie das erklären?
Gerade in den umkämpften Gebieten im Süden und Südosten Afghanistans gab es für die Menschen jahrelang keine Sicherheit. Sie wussten nicht, ob sie bei Kampfhandlungen oder von Drohnen getötet werden, wenn sie rausgehen. Das war kein Leben. In diesen Gebieten hat man zunächst die Taliban-Machtübernahme begrüßt, weil die Kämpfe aufhörten. Und dann gab es natürlich auch Menschenrechtsverletzungen von Seiten der USA und der Alliierten, beispielsweise Australien. Diese mutmaßlichen Kriegsverbrechen der Soldaten sind an der Bevölkerung nicht vorbeigegangen – und die waren gegen den Einsatz der internationalen Truppen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass nicht auch ich anfangs den Gedanken hatte, dass zumindest kein Krieg mehr herrscht. Aber das war nicht der Fall. Es gibt weiterhin Anschläge. Die Taliban verfolgen weiterhin Menschen, wie ehemalige Sicherheitskräfte, Menschen anderer Ethnien oder Glaubensrichtungen.

Zur Person
Waslat Hasrat-Nazimi, geboren 1988, ist eine deutsch-afghanische Journalistin und Moderatorin, und leitet die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle. Als Kind flüchtete sie mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland, wo sie aufwuchs. Am 16. August 2022 erscheint ihr erstes Buch „Die Löwinnen von Afghanistan: Der lange Kampf um Selbstbestimmung“ (Rowohlt), eine feministische Perspektive auf die Frauen Afghanistans und deren Kampf um Selbstbestimmung.
„Der Westen hat sich gar nicht gefragt, was die Frauen in Afghanistan wirklich wollen“
Wie steht es um die Frauenrechte in Afghanistan – werden diese unter den Taliban jemals gewahrt werden?
Nein. Frauenrechte in Afghanistan wurden immer benutzt, vom Westen, um diesen Krieg zu legitimieren – und von den Taliban, die jetzt sagen, wir zeigen euch mal, was wir von euren Frauenrechten halten. Sie benutzen Frauen und Frauenrechte, um es dem Westen heimzuzahlen. Ich denke nicht, dass sich daran irgendetwas in naher Zukunft ändern wird. Es gab wahrscheinlich am Anfang ein Zeitfenster, in dem man auf die Taliban hätte Einfluss ausüben können. Aber dieses wurde einfach nicht genutzt. Es gab nicht genug Interesse daran, mehr Druck auf die Taliban auszuüben.
In Ihrem Buch kritisieren Sie den weißen Feminismus. Können Sie das näher erläutern?
In der zweiten Welle des Feminismus ging es vor allem um sexuelle Selbstbestimmung und darum, dass Frauen arbeiten gehen und das Geld für sich behalten dürfen. Allerdings haben diese Themen nicht wirklich auf Afghanistan gepasst. In Afghanistan ging es nach der ersten Taliban-Herrschaft nicht darum, sexuelle Selbstbestimmung zu erlangen. Der Westen hat sich gar nicht gefragt, was die Frauen in Afghanistan wirklich wollen. Stattdessen hat man für sie gesprochen. Natürlich war ein jahrelang andauernder Krieg nicht im Sinne afghanischer Frauen. Ein Krieg, der nur noch mehr Gewalt mit sich bringt, denn meistens sind ja Frauen die Leidtragenden. Stattdessen schrieben die westlichen Länder sich auf die Fahne, dass Frauen jetzt aus dem Haus dürfen oder die Burka nicht mehrt tragen müssen. Der typische White-Savior-Mechanismus.
Trotz all der Jahrzehnte vor Ort in Afghanistan, hat der Westen das Land also nie wirklich verstanden oder verstehen wollen?
Sie haben Afghanistan nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Stattdessen hat man sich gesagt, dass die Menschen Afghanistans so anders seien, eine andere Denkweise hätten, man könne sie sowieso nicht verstehen. Es wurde gar nicht erst versucht! Das war sehr kurz gedacht. Im Endeffekt sind es Menschen, die genau das gleiche möchten wie Menschen hier. Sicherheit, ein selbstbestimmtes Leben und dass die Kinder zur Schule gehen können.
Am Anfang waren die Taliban daran interessiert, internationale Anerkennung zu erhalten und als Staat anerkannt zu werden. Mittlerweile nicht mehr. Sie haben sich abgewendet und fokussieren sich jetzt auf China und Russland als neue Partner.
China und Russland in Afghanistan: „Der Westen ist weg und wir übernehmen jetzt wieder hier das Feld“
Wollen die Taliban eigentlich noch immer internationale Anerkennung?
Am Anfang waren sie daran interessiert, internationale Anerkennung zu erhalten und als Staat anerkannt zu werden. Mittlerweile nicht mehr. Sie haben sich abgewendet und fokussieren sich jetzt auf China und Russland als neue Partner.
Geht es China und Russland dabei um wirtschaftspolitische Interessen?
Afghanistan hat mehrere Trillionen wertvoller Bodenschätze. Die geostrategische Lage ist ebenso bedeutend. Das Land liegt genau zwischen Iran und Pakistan, China hat eine kleine Grenze zu Afghanistan. Genau diesen Abschnitt brauchen China und Pakistan für ihr großes Projekt, Transportwege in Zentralasien zu öffnen. Deshalb wollen sie Macht und Spielraum in Afghanistan. Gleichzeitig ist es natürlich auch ein symbolischer Akt. Der Westen ist weg und wir übernehmen jetzt wieder hier das Feld.
Die Augen der Welt sind seit Beginn des Jahres nicht mehr auf Kabul, sondern auf den Russland-Ukraine-Krieg gerichtet. Wie fühlt sich das an?
Das schmerzt. In den ersten Wochen war die internationale Aufmerksamkeit und Anteilnahme für Afghanistan groß. Mir war natürlich klar, dass diese abebben wird, aber dass es so schnell ging ... das hat sehr viel mit mir gemacht.
Wie steht es um die Nachbarländer Afghanistans, wie arrangieren die sich mit den Taliban?
Der Westen hat seine Kriege immer in Afghanistan ausgetragen. Das passiert auch jetzt noch, wie wir an dem Drohnenangriff auf Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri sehen. Der Konflikt ist nicht vorbei. Dass die USA diese Möglichkeiten weiter haben, ist für die Nachbarländer Afghanistans ein negatives Zeichen, weil die sich nach dem Abzug in Sicherheit wähnten. Es ist anzunehmen, dass sich die Situation in Afghanistan weiter zuspitzen wird. Dass der Konflikt noch lange nicht vorbei ist. Es gibt jetzt wieder häufiger Anschläge in Afghanistan, sei es vom sogenannten Islamischen Staat oder von den Widerstandsgruppen. Wenn die Nachbarländer sich bedroht genug von den Taliban fühlen, dann werden sie wahrscheinlich diese Gruppen finanzieren. Bis jetzt ist das nicht der Fall, weil man sich mit den Taliban arrangieren wollte. Aber wenn die Taliban tatsächlich mit Terroristen wie Al-Kaida zusammenarbeiten, dann ist das eine Bedrohung für die Nachbarländer.
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Taliban-Herrschaft in Afghanistan: „Meine Theorie ist, dass es einen Bürgerkrieg geben wird“
Glauben Sie, dass die Taliban ihre Herrschaft in Afghanistan dauerhaft aufrecht erhalten können? Und was könnte nach ihnen kommen?
Meine Theorie ist, dass es einen Bürgerkrieg geben wird, weil die Taliban untereinander verstritten sind. Es gibt sehr viele Differenzen innerhalb der Taliban, die aus verschiedenen Gruppierungen bestehen. Das merkt man zum Beispiel am Thema Schul-Zugang für Mädchen, bei dem es unterschiedliche Ansichten gibt. Ich glaube nicht, dass sich die jetzige Einheit halten wird. Langfristig wird es darauf hinauslaufen, dass sie sich untereinander bekämpfen. Das erinnert an die Situation in den 90er-Jahren, als sie bereits einmal an der Macht waren. Ich denke auch, dass die Gruppen, die gegen die Taliban sind, wie der sogenannte Islamische Staat, aber auch Widerstandsgruppen, immer stärker werden. Auch, weil die Nachbarländer ein Interesse daran haben, dass die Taliban nicht langfristig in Afghanistan bleiben. Außerdem sind die Taliban nicht in der Lage, die die Bevölkerung zufrieden zu stellen, sei es wirtschaftlich, weil es keine Jobs gibt oder weil die Menschen hungern müssen. Sie werden sich nicht ewig halten können
Wie kann die internationale Gemeinschaft einen Umgang mit der Taliban-Regierung finden – gerade auch bezüglich der Wirtschaft und Sanktionen?
Das ist sehr schwierig. Es gibt Bemühungen, Hilfsgelder direkt an die Bevölkerung auszuzahlen, die Taliban zu umgehen. Aber die Taliban sind korrupt und versuchen an die Gelder zu kommen, beispielsweise, dass man ihnen etwas zahlen muss, damit sie das Geld weiter geben. Deswegen ist es in den vergangenen Monaten sehr schwierig gewesen, die Auszahlung der Hilfsgelder so umzusetzen, dass die Bevölkerung sie erhält. Trotzdem muss man es versuchen, man kann die Menschen ja nicht sterben lassen, nur weil man nicht mit den Taliban verhandelt möchte. Auch in der vorherigen Regierung gab es Korruption, da hat man es ja auch gemacht. Das heißt nicht, dass ich das befürworte, aber ich finde einfach, dass Menschenleben wichtiger sind.
Die internationale Korrespondentin Natalie Amiri reiste Ende 2021 nach Afghanistan. In ihrem „Afghan Diary“ berichtete sie von ihren Erlebnissen – mehr als 100 Tage nach der Taliban-Machtübernahme.