Afghan Diary: Unterwegs auf Afghanistans einst gefährlichster Straße – ein Symbol des Scheiterns
Der Highway 1 sollte für die Modernisierung Afghanistans stehen. Stattdessen wurde die Ring-Road zur gefährlichsten Straße des Landes. Die internationale Korrespondentin Natalie Amiri wagt die Fahrt.
Kandahar/Kabul – Habe ich schon erwähnt, dass ich kaum eine Nacht schlafe, seit ich in Afghanistan gelandet bin? Weil ich ständig von Gewehrsalven auf der Straße aufschrecke. Das war schon in Kabul so, jetzt höre ich in Kandahar wieder jede Nacht Schüsse. Die Stadt, Hochburg der Taliban, liegt 500 Kilometer südlich von Kabul. Ich frage am Morgen meinen Mitarbeiter, ob er sie nicht gehört habe. Die Schüsse. Nein. Er findet, es sei jetzt sowieso in der Nacht viel ruhiger als vor der Machtübernahme der Taliban im August. Zum einen ist es wohl tatsächlich so, das wird mir von vielen bestätigt – und zum anderen hat er sich vermutlich an diese innere Unruhe stiftenden Geräusche gewöhnt, im Laufe der Jahre.
Es ist noch stockdunkel, als wir aufbrechen. Ich habe mir eine Thermoskanne vom Hotel mitgenommen, voll mit Tee. Es gibt grünen und schwarzen Tee in Afghanistan. Mehr grün als schwarz, mit der Intensität des schwarzen kann ich mich hier nicht besonders anfreunden, er ist viel zu schwach, verglichen zum Tee im Iran oder in der Türkei. Wir packen alles ins Auto und fahren los.
Wir haben vor, auf der ehemals gefährlichsten Straße Afghanistans zurück nach Kabul zu fahren. Deshalb auch der Tee, ich weiß nicht, ob wir anhalten können. Gesagt wird uns, man kann auf dieser Straße wieder fahren. Der Ring-Road. Ein ringförmiges Netz aus Fernstraßen, das viele und vor allem die größten afghanischen Städte miteinander verbindet. 2200 Kilometer lang. Unsere Strecke wird mit 491 Kilometern angezeigt und von Google Maps mit 9 Stunden und 43 Minuten berechnet. Am Ende werden es mit Zwischenstopps 15 Stunden sein.
Die einst gefährlichste Straße Afghanistans: Natalie Amiri auf der Route Kandahar-Kabul
Dieser Abschnitt von knapp 500 Kilometern wird Highway 1 genannt. Als der damalige Präsident Karzai die Straße 2003 einweihte, sagte er in einem Interview, dass dies einer der besten Tage seines Lebens war. Er wusste, wie wichtig diese Verbindungsstraße nach Kabul war. Er kommt schließlich aus Kandahar. Der Highway stand als Symbol für die rasante Entwicklung in Afghanistan, die Modernisierung, den Aufbau. Für eine kurze Zeit – danach wurde Highway 1 ein Symbol für das Scheitern in Afghanistan. Es war im Grunde genommen schon damals erkennbar. Das Projekt Afghanistan war nicht geglückt. Und die Straße nicht befahrbar. Bis heute.
Ich sehe immer noch kaum etwas, Straßenbeleuchtung gib es fast nicht. Gegenverkehr auch nicht. Noch nicht. Wir fahren im Stockdunkeln recht schnell, finde ich, zum Glück muss der Fahrer immer wieder abbremsen, um riesige Schlaglöcher zu umfahren. Er kennt die Strecke, denn als ehemaliger Polizist musste er hier patrouillieren. Ein gefährlicher Job, den viele seiner Kollegen mit dem Leben bezahlen mussten.
Langsam setzt die Morgendämmerung ein, ich erkenne die Umrisse, den katastrophalen Zustand der Straße, immer deutlicher. Gesprengte Brücken, eine Straße, auf der man kaum eine Strecke von 30 Metern zurücklegen kann, ohne den nächsten Krater, Riss, Schaden umfahren zu müssen. Auf dieser Straße, erzählt mir der Fahrer, hielten sich ausschließlich die Taliban auf, oder gepanzerte Militärfahrzeuge. Afghanische, deutsche, amerikanische. Oder gepanzerte Regierungswagen. Auf die beiden letzten Gruppen hatten es die Taliban* abgesehen.
Sie versteckten sich am Straßenrand und zündeten dann IEDs. Improvisierte Sprengsätze. Improvised Explosive Devices. Sie wurden gezündet, sobald sich ein Fahrzeug über den selbstgebauten Bomben befand. USBV heißt die deutsche Abkürzung. Das steht für Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung. 2003 wurden in Afghanistan 81 Anschläge mit solchen Sprengsätzen registriert, 2009 bereits 7228.
Afghanistan unter Taliban-Herrschaft: Verursacher von Terror werden dafür gefeiert, dass es nun sicher ist
Oberstleutnant Heck, zuständig für das Informationszentrum Counter IED, sagte 2010 bei der Eröffnung des Zentrums in Bonn: „Die Taliban haben natürlich den großen Vorteil, dass sie uns in vielen Bereichen aufzwingen können, wann und wo sie uns mit einem IED tatsächlich angreifen wollen, so dass wir vom Prinzip her immer und überall mit einem IED-Anschlag rechnen müssen, aber letztendlich die Aufständischen festlegen, wann und wo und wie es passiert.“
Und so schizophren es ist, diejenigen, die für diesen Terror auf den Straßen sorgten, werden jetzt dafür gefeiert, dass es sicher ist. Kein Kunstwerk eigentlich, denn die Verursacher von Terror sind jetzt in Kabul an der Macht.
Ich frage einen Ex-Bundeswehr-Soldaten, der lange im Afghanistan-Einsatz war, was er empfand, wenn er auf dieser gefährlichsten Straße Afghanistans fahren musste. Er schreibt mir, dass er es hasste. Sie saßen zwar in gepanzerten Fahrzeugen, waren aber jedes Mal innerhalb von Minuten klatschnass, durch die Hitze und die Anspannung. Noch heute achte er, lange nach seiner Zeit in Afghanistan und in Sicherheit in Deutschland lebend, auf jede Mülltüte, die auf der Straße liegt. Und auch bei Schnellkochtöpfen hätte er sofort die Bauanleitung von IEDs vor seinen Augen. Er hätte eine richtige Abneigung gegen Tüten und Schnellkochtöpfe entwickelt, weil ihn beides an die Sprengfallen erinnern: „Wer suchet, der findet. Wer drauftritt, verschwindet“ schreibt er noch. Vielleicht war das ein gängiger Slogan unter Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan.
Die Taliban waren schon bei ihrer ersten Herrschaft besonders innerhalb der paschtunischen Bevölkerung sehr beliebt. Zum einen, weil die Taliban selbst Paschtunen sind und zum anderen, weil sie für Sicherheit und Ordnung sorgten. Aus Sicht der einheimischen Bevölkerung war das ein Erfolg. Dann kamen 20 Jahre, in denen Unsicherheit und Terror herrschten, während die internationale Staatengemeinschaft mit ihren Soldatinnen und Soldaten chancen- und ergebnislos versuchte für Sicherheit zu sorgen. Und so schizophren es ist, diejenigen, die für diesen Terror auf den Straßen sorgten, werden jetzt dafür gefeiert, dass es sicher ist. Kein Kunstwerk eigentlich, denn die Verursacher von Terror sind jetzt in Kabul an der Macht.
Solarpanels mitten in der afghanischen Provinz: Stromerzeugung durch erneuerbare Energie
Inzwischen scheint die Sonne. Ich sehe an den Straßenrändern immer mehr Solarpanels, ich würde fast sagen, eindeutig mehr als in Deutschland. Das hätte ich nicht gedacht. Ich möchte mit den Menschen sprechen, die sie aufgestellt haben, ihren Strom darüber erzeugen. Wir halten. Drei Bauern arbeiten gerade auf dem Feld, inmitten dessen Solarpanels stehen, eins, zwei, drei Stück zähle ich. Was machen Sie mit diesen Solarpanels?, frage ich sie.
„Wir erzeugen damit Strom für unsere Wasserpumpen. Die stehen gleich hinter den Panels. Sie pumpen Grundwasser, mit dem wir unsere Trauben bewässern. Das machen wir seit fast 20 Jahren schon so.“ Ich staune. Die Bauern mitten in der Provinz in Afghanistan scheinen schon weiter zu sein als wir hier in Deutschland. Sie wirkt zumindest sehr eingespielt, die Stromerzeugung durch erneuerbare Energien. Sie haben sie in Kandahar gekauft. „Seitdem wir diese Panels haben, ist unser Leben so viel einfacher geworden, hier gab es absolut kein Wasser, es herrschte absolute Dürre. Seit wir mit dem Strom Wasser holen, haben wir immer Wasser,“ sagen sie und strahlen mich dabei an.

Sie haben sich richtig Mühe gegeben, mit ihrem kleinen Solarpark. Die Panels stammen alle von unterschiedlichen Herstellern. Bunt durcheinander gewürfelte Modultypen. Vermutlich waren sie schon gebraucht, als sie sie kauften. Aber das macht erstmal nichts, zusammen erzeugen sie für die Bauern wichtigen Strom. Ich zeige die Bilder der Panels einem Freund, es ist sein Fachgebiet. Er meint zu mir, die Panels sind nicht gereinigt, wären sie das, könnten sie zehn Prozent mehr Leistung bekommen. Das muss ich den Bauern sagen, ist mein erster Gedanke. Das nächste Mal, wenn ich auf dieser Straße entlangkomme. Ansonsten, sagt mein Freund, wären die Module in einem ganz guten Zustand und werden den Bauern sicher noch die nächsten 20, 30 Jahre Strom liefern.
Begegnung mit Ex-Talib auf Afghanistans gefährlichster Straße: „Taliban werden immer gebraucht“
Den Bauern ist es egal, wer ihnen Sicherheit garantiert, Hauptsache, sie haben sie: „Wir haben keine guten Erinnerungen an die Zeit, als hier auf unseren Feldern viele Kämpfe stattfanden, wir uns jeden Tag versteckten und nicht auf unseren Feldern arbeiten konnten. Jetzt haben wir keinen Krieg oder gar Feuer und wir kommen sicher hierher und setzen unsere Arbeit fort. Das Leben ist so sicher, und wir sind so glücklich mit unserem Leben, wir hatten vorher so viele Probleme. Wir sind glücklich, da niemand einen Krieg beginnt. Wir können problemlos arbeiten oder reisen, was wir vorher nicht tun konnten.“
Wir fahren weiter. Als es noch richtig dunkel war, hatten wir bereits unseren ersten Platten. Ich erinnere den Fahrer daran, dass wir keinen Ersatzreifen mehr hätten und einen zu besorgen bei der Straßenqualität eventuell nicht schlecht sei. An der nächsten Autowerkstatt halten wir. Autowerkstatt ist etwas euphemistisch. Es liegt ein Reifen auf dem Boden im Staub und ein Wagenheber – fünf Männer, zwei Jungen, stehend daneben und schießen mit einem Luftgewehr nicht vorhandene Vögel in der Luft ab. Ich frage denjenigen, der gerade schießt, wie es jetzt ist, hier zu leben, seit die Taliban an der Macht sind.
„Bevor es hier Krieg gab, war ich ein Talib, und jetzt sind nur noch meine Brüder bei den Taliban und nicht ich. Meine Brüder sind in der Stadt und mein Leben ist jetzt sehr still“, berichtet er mir. Ich möchte wissen, warum er nicht mit den Leuten zusammen ist, die jetzt an der Macht sind. Der ehemalige Talib antwortet: „Jetzt sind meine Brüder da, und ich kümmere mich um meinen Laden und mein Geschäft. Ich bin glücklich, Talib zu sein, aber die finanzielle Situation des Hauses ist nicht gut und wir haben nicht genug Geld.“
Wenn alle reich wären, hätten wir dann keine Taliban, möchte ich von ihm wissen. Er antwortet: „Die Taliban werden gebraucht, weil das vorherige Regime viele schlimme Dinge getan hat und es Diebe gab, aber die Taliban haben Diebe, Schläger und illegalen Sex eliminiert. Vorher waren die Polizeiposten so schlimm, dass wir nicht einmal zu unseren Geschäften kommen konnten. Sie kassierten Geld von Fahrzeugen auf dieser Autobahn. Die Taliban werden immer gebraucht, um die Sicherheit zu wahren.
Sicherheit in Afghanistan: Viele sehen Taliban nicht als Feind – sondern das Ausland
Sicherheit, ein Grundpfeiler im Leben. Egal, ob in Afghanistan*, oder in Deutschland. Nur wir in Deutschland wissen nicht, wie es sich anfühlt, keine Sicherheit zu haben. Viele in der afghanischen Bevölkerung sehen die Taliban nicht als Feind, wenn sie nicht gerade eine Frau sind, oder zu der marginalen Mittelschicht Kabuls gehören, die wir im Westen im Fokus hatten, mit der wir kommunizierten. Der Feind war für viele das Ausland, das mit gepanzerten Militärfahrzeugen durch ihr Land fuhr und das die Taliban bekämpften. Das Ergebnis war: keine Sicherheit.
Am Ende meiner Reise chatte ich mit einem Kollegen, der vorhat, von Kabul bis nach Herat auf genau dieser Straße entlangzufahren. Ich bin ein bisschen eifersüchtig, schreibe ich ihm, würde auch gerne die noch längere Route bis in den Westen fahren. Er schreibt zurück: Kein Neid, meldet mein Rücken an deinen Rücken. Da hat er Recht. (Natalie Amiri) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
7 Tage in Afghanistan: Afghan Diary von Natalie Amiri
Uns allen sind die tragischen Bilder der Tage um den 30. August 2021 noch vor Augen, die den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan begleiteten. Tausende Menschen versuchten verzweifelt am Flughafen von Kabul in eines der Flugzeuge gen Westen zu gelangen, um auszureisen. Sie wollten nicht in einem wieder von den Taliban regierten Afghanistan leben. Die Wenigsten hatten das Glück, einen Platz an Bord zu bekommen.
Seitdem regieren die Taliban das zerrissene und verarmte Land, dem nicht wenige Beobachter für diesen Winter eine humanitäre Katastrophe voraussagen. Natalie Amiri, internationale Korrespondentin, hat während ihres jüngsten Recherche-Aufenthaltes für ihr neues Buch (erscheint am 14.03.2022) in Afghanistan ein eindrucksvolles Tagebuch geführt. IPPEN.MEDIA veröffentlicht das Tagebuch ihrer Reise in sieben Teilen sowohl online als auch via Print in einigen Titeln wie dem Münchner Merkur oder der Frankfurter Rundschau.