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Afghan Diary: In der Hochburg des Talibanismus – „Sie zerstörten selbst die Grabsteine der Polizisten“

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In Kandahar trifft die internationale Korrespondentin Natalie Amiri auf den Sprecher der Taliban-Regierung. Und begegnet ermüdeten Glaubenskämpfern.

Kandahar – Ich bin in der Provinz Kandahar angekommen, sie liegt im Süden Afghanistans. Zusammen mit meinem Producer, der in Kabul wohnt, sind wir hierher geflogen. Zurück wollen wir mit dem Auto, mal sehen, ob wir es schaffen. Er ist diese Strecke noch nie gefahren. Doch erst einmal sind wir jetzt hier, in Kandahar. Der Hochburg der Taliban. Zentrum des Talibanismus. Das Wort gibt es nicht auf Deutsch, aber es fühlt sich so passend an.

Kandahar soll sicherer sein als Kabul, wird mir gesagt. Weil es hier von Taliban wimmelt, hier würde sich Daesh-K nicht her trauen, heißt es. Sicherer auf den Straßen, aber gefährlich für ehemalige Regierungsmänner und Frauen. Die Kämpfe um Kandahar zwischen der Armee und den Taliban im Sommer 2021 waren heftig. Als wir etwas außerhalb der Stadt an der ehemaligen amerikanischen Militärbasis vorbeifahren, sehe ich einen Friedhof.

Daesh-K

Als ISIS-K, IS-K oder auch Daesh-K wird der afghanische Ableger der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) bezeichnet. Es handelt sich somit um eine regionale Gruppe des IS. Jahrelang versuchten die USA und die Taliban, ISIS-K zu bekämpfen – ohne Erfolg. Zu der Terrorgruppe sollen ehemalige Anhänger der Taliban sowie Islamisten aus Pakistan gehören. Die Taliban und der Islamische Staat gelten als verfeindet.

ISIS-K oder Daesh hatte sich zu dem verheerenden Terroranschlag am 26. August 2021 am Kabuler Flughafen bekannt. Bei dem Angriff verloren mindestens 170 Afghaninnen und Afghanen und 13 US-Soldatinnen und Soldaten ihr Leben. Bereits in den Tagen zuvor hatte es Warnungen vor einem Anschlag des Islamischen Staates gegeben. Der Kabuler Flughafen war Schauplatz der internationalen Evakuierung der Nato-Truppen nach dem Fall Afghanistans an die Taliban gewesen. Tausende Menschen versuchten verzweifelt, einen Platz in einem der Flugzeuge zu ergattern und so aus dem Land zu entkommen – größtenteils vergebens. (aka)

Unser Fahrer erklärt uns, dass die Gräber ganz frisch seien. Es liegen dort 250 Soldaten und Polizisten begraben, die in einer einzigen Nacht gestorben sind – im Kampf gegen die Taliban. Am 12 August erklärten die Taliban ihren Sieg über Kabul. Die Augen des Fahrers sehen traurig aus, als er uns erzählt, warum die Grabsteine alle verschmiert sind: „Diese Steine, auf die die Namen und Daten geschrieben waren, wurden von ihnen zerstört – und es war keine gute Tat. Schau dir diese Steine ​​an, die zerbrochen sind. Jeder weiß, dass Leichen nichts tun können, aber die Taliban zerstörten selbst die Grabsteine der toten Polizisten.“

Kandahar in Afghanistan: In der afghanischen Provinz formierte sich die Taliban-Gruppe um Mullah Omar

Die Taliban entstanden als eine Gruppe, die sich um Mullah Omar in Kandahar formierte. Er lebte hier, versteckte sich lange in den Bergen. Es gibt kaum Bilder von ihm. Schlussendlich starb er 2013 eines natürlichen Todes, ganz in der Nähe einer US-Militärbasis in der Provinz Zabol. Eine Blamage für die Amerikaner, ihm, ohne ihn gefasst zu haben, nur einen Katzensprung entfernt, einen natürlichen Tod zu schenken.

In Kandahar trifft die internationale Korrespondentin Natalie Amiri auf den Sprecher der Taliban-Regierung.
In Kandahar trifft die internationale Korrespondentin Natalie Amiri auf den Sprecher der Taliban-Regierung. © N. Amiri/N.Bruckmann/M. Litzka/afp

Die Taliban* bestanden sowohl aus ehemaligen Mudschaheddin, als auch aus Anhängern, die in den 80er-Jahren in der kommunistischen Regierung hohe Posten hatten. Sie formierten sich 1994, inmitten einer politischen Anarchie. Das Gebiet rund um Kandahar – der zweitgrößten Stadt Afghanistans – war ihre Hochburg, gleichzeitig ist diese Region Hochburg der Paschtunen. Die meisten Taliban sind Paschtunen, die größte ethnische Gruppe in Afghanistan, mehr als 55 Prozent liest man, in anderen Datenbanken heißt es 42 Prozent. Ein Kollege meinte zu mir, er zitiere nie Zahlen aus Afghanistan, die wären alle Schall und Rauch. Was man aber sagen kann, ist: Die Paschtunen haben seit mehr als 200 Jahren das Sagen im Land, bestimmen die Politik, die Kultur.

Seraj sagte mir, dass sie noch immer nicht verstehen könne, warum man so sehr an diesem Datum festhielt. Und dadurch die Evakuierung von Zehntausenden von Menschen derart dramatisch verlaufen musste. Diese zwei Wochen im August 2021, der 15. August bis Ende August, werden vermutlich für immer, zumindest für eine sehr lange Zeit, im Gedächtnis der Afghanen bleiben, ein Trauma. 

Natalie Amiri, Afghan Diary

Die Taliban wurden und werden unterstützt vom pakistanischen Inlandsgeheimdienst ISI. Die Frauenrechtlerin Mahboubah Seraj sagte mir im Interview: „Pakistan würde es lieben, wenn der Zweig der Hardliner (Haqqani Netzwerk) innerhalb der Taliban das Sagen komplett übernehmen würde. Sie ziehen es in Betracht, dass Afghanistan ihr fünfter Staat wird. Sie würden es lieben. Aber bei Gott, ich werde das stoppen. Ich schöre zu Gott, ich schwöre. Das wird der Tag sein, an dem ich auf die Straße gehen werde, das wird der Zeitpunkt sein, wenn ich mein Leben für diesen Kampf opfere.“

Kabul: Hauptstadt Afghanistans fällt nach 20 Jahren – Zuvor Abkommen zwischen USA und Taliban

Am 15. August 2021 nahmen die Taliban nach 20 Jahren die Hauptstadt Kabul ein. Wieder einmal. Vorausgegangen waren Verhandlungen über ein Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das unter anderem den vollständigen Abzug der US-Truppen vorsah. Das Abkommen wurde bereits im Februar 2020 von dem früheren US-Präsidenten Donald Trump* unterschrieben. Im April 2021 erklärte US-Präsident Joe Biden*, dass alle US-amerikanischen Truppen bis zum 11. September 2021 Afghanistan verlassen sollen.

Seraj sagte mir, dass sie noch immer nicht verstehen könne, warum man so sehr an diesem Datum festhielt. Und dadurch die Evakuierung von Zehntausenden von Menschen derart dramatisch verlaufen musste. Diese zwei Wochen im August 2021, der 15. August bis Ende August, werden vermutlich für immer, zumindest für eine sehr lange Zeit, im Gedächtnis der Afghanen bleiben. Ein Trauma. Vielen, mit denen ich vor Ort spreche, schießen sofort Tränen in die Augen, wenn ich danach frage. Andere erzählen mir, dass sie in dieser Zeit in eine Depression fielen, Panikattacken erlebten, Stressekzeme an Händen und Füßen, im Gesicht bekamen.

Die Taliban, die bereits zuvor weite Teile des ländlichen Raums in Afghanistan* kontrollierten, begannen ab Mai immer mehr Gebiete einzunehmen. Nach der Eroberung Kabuls am 15. August, erklärten sie ganz Afghanistan zum „Islamischen Emirat“ und riefen am 7. September 2021 eine neue Regierung aus. Dieser Regierung besteht zu 90 Prozent aus Paschtunen. Der Innenminister ist Sirajuddin Haqqani, er steht auf der Most-Wanted Liste der CIA und ist Anführer eines gleichnamigen radikal-islamischen Netzwerks, das die USA als Terrororganisation einstufen. Auf ihn ist ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt.

Die Regierung stellte ein Kabinett vor, in dem ausschließlich Taliban vertreten sind, keine Frauen, keine ethnischen Minderheiten. Man versprach bei Verkündung der Regierung, dass ihre Stimmen mit eingebunden werden. Bis heute ist dies nicht geschehen. Übrigens auch eine der Bedingungen, die bei den Friedensgesprächen in Doha vereinbart worden waren.

Kandahar in Afghanistan: Natalie Amiri im Gespräch mit Taliban-Sprecher Zabihullah Muhajid 

Wir stehen vor seiner Tür, im dritten Stock des Kulturministeriums. Ich gehe nicht davon aus, dass wir ohne Ankündigung, geschweige denn Termin, ein Interview bekommen. Aber warum nicht versuchen. Es stehen Dutzende Menschen, Männer, vor dem Zimmer des Sprechers der Taliban, Zabihullah Muhajid. Alle haben sie Probleme, keine, die eigentlich der Sprecher einer Regierung lösen sollte und könnte. Man stelle sich vor, man hätte ein Problem mit seinem Nachbarn, Streit um ein Grundstück, und taucht vor Steffen Seiberts Büro auf.

Wir werden in einen separaten Raum gebracht. Mein Producer kennt einen Mann, der im Vorzimmer des Taliban-Sprechers arbeitet, deshalb werden wir bevorzugt behandelt. Oder, weil ich aus Deutschland bin, eine Journalistin aus dem Ausland, die Gutes aus Afghanistan berichten soll, damit die finanzielle Unterstützung des Landes wieder anlaufen kann. In dem Raum, in den wir gebracht werden, sitzt der Zuständige fürs Fernsehen.

Ich frage ihn nach dem Gerücht, dass Frauen nicht mehr in Serien und Filmen spielen sollen. Er meint, sie arbeiten daran. Dann sagt er zu meinem Begleiter: „Ich kenne Sie, Sie sahen nur etwas anders aus.“ Und krault dabei seinen Bart, der recht neu aussieht. Er möchte mit seiner Geste wohl signalisieren, dass er weiß, dass auch mein Begleiter früher bartlos war. Man passt sich eben an, in einer Diktatur. Der Mitarbeiter von Zabihullah Muhajid kommt ins Zimmer, man sieht in seinem Gesicht, dass er eine gute Nachricht zu verkünden hat und stolz darauf ist: Ich dürfe das Interview führen. Jetzt sofort.

Ich sage es gleich, ergiebig war dieses Gespräch nicht – auch, wenn man sich freut, in der Hierarchie der Taliban-Struktur mit einer so zentralen Figur sprechen zu können. Doch seine Antworten auf meine Fragen waren mehr als vage. Er betonte, dass die neue Regierung Hilfe für den Aufbau Afghanistans benötige. Dass er keine Gefahr von Daesh-K ausgehend sehen würde: „Wir haben keine Gegenpartei, die mit uns im Krieg sein könnte. Nur wenige Leute, die gegen uns unter dem Namen Daesh kämpfen – einige wurden gefangen genommen, einige wurden getötet und gegen den Rest ermitteln wir, da sie keine Basis oder die Unterstützung der Leute haben.“

Interview mit Taliban-Sprecher: Frauenrechte, Schulbildung und Spaltung innerhalb der Gruppierung

Ich sage ihm, dass ich weiß, dass er in einer Pressekonferenz geäußert hatte, dass Frauen alle ihre Rechte wahrnehmen könnten, solange sie mit der Scharia vereinbar sind – was de facto bedeutet, dass sie kaum Rechte haben. Auf meine wiederholten Nachfragen nach Frauenrechten, antwortet er: „Wir haben viel für die Scharia geopfert, und wir wollen dieses Gesetz in Afghanistan, nicht im Westen, der Westen kennt seine Gesetze, aber dies ist Afghanistan, dies ist unser Land, und wir wollen ein Gesetz haben, das auf unserer Kultur basiert und unseren Überzeugungen, so dass die Menschenrechte in diesem Land auf der Scharia basieren werden. Alle afghanischen Frauen sind Muslime und stimmen den Rechten zu, die der Islam ihnen gibt.“

Zu weiterführenden Schulen meint er, dass sie für das ganze Land an einem einheitlichen Programm arbeiten würden – und dass dann die Schulen auch für Mädchen allmählich wieder geöffnet werden sollen. Ich frage ihn nach der Spaltung innerhalb der Taliban, zwischen dem radialen Haqqani Fraktion und der moderateren Gruppe rund um Abdul Ghani Baradar, stellvertretender Regierungschef und Taliban-Mitbegründer. Die sollen nämlich heftig aneinandergeraten sein. Die moderatere Doha Fraktion, der Kreis um Baradar, hatte bei der Regierungsbildung den Kürzeren gezogen. Am Ende will ich von dem Sprecher der Taliban noch wissen, ob er mir garantieren kann, dass Frauen (ich komme gerade von einem Interview mit einer ehemaligen Nationalspielerin, die sich im Keller verstecken muss, weil sie die Taliban jagen) wieder öffentlich Sport machen dürfen. Er sagt: „Wir versuchen es.“

Am Ende des Gesprächs merke ich, dass mich die erste Antwort von Zabihullah Muhajid am meisten überraschte. Er antwortete auf meine Frage, ob es ihn nicht verwundert hätte, dass sie so ganz ohne Widerstand so schnell an die Macht gekommen seien mit Ja!

Als wir schon raus sind aus Muhajids Zimmer, sagt uns sein Mitarbeiter, eher zu mir gewandt: Falls ich eine Möglichkeit hätte ihn und seine Familie außer Landes zu bringen, dann würde er diese Chance ergreifen. Zuvor hatte ich ihm erzählt, dass in Deutschland gerade afghanische Restaurants sehr beliebt sind und alle afghanisches Essen lieben. Er lächelte stolz, als ich darüber sprach.

Taliban-Herrschaft: Die religiösen Schulen Madrasas als Kaderschmiede der Glaubenskämpfer

Die Taliban haben definitiv eines geschafft: Es ist sicherer geworden auf Afghanistans Straßen. Ein bisschen schizophren ist es schon, sie dafür zu feiern. Denn die Verursacher von Unsicherheit und Terror sind jetzt an der Macht. Bei einem Taliban-Checkpoint in Kandahar frage ich einen Taliban Kämpfer, was seine Aufgabe dort ist. „Ich sorge für Sicherheit, wir leisten Sicherheitsdienste für die Bürger. Freitagabend sind wir in Madrasas und wenn wir mit unserem Studium in Madrasas fertig sind, werden wir mit unseren Militärdiensten beschäftigt“, berichtet er mir. Sie würden zwei Tage und Nächte arbeiten und sich dann dem Studium in Madrasas widmen. Ob die Sicherheitslage besser geworden sei, möchte ich wissen. „Sicherheit ist besser als je zuvor, und das ist unsere Aufgabe“, antwortet er mir.

Doch auch hier lässt die anfängliche Eurphorie nach. Ich höre von einigen, dass die ganze Nacht an einem Checkpoint zu stehen, bei eisiger Kälte, nicht gerade der Lebenstraum sei. Man fühle sich als Sieger ein bisschen wie ein Verlierer. Den Feind zu bekämpfen, war aufregender. Jetzt haben sie Verantwortung, damit kommen so einige noch nicht richtig zurecht.

Talib, heißt Religionsstudent. Ihre Basis haben sie in den religiösen Schulen, in den Madrasas in Pakistan und Afghanistan. Sunnitisch fundamentalistische Kaderschmieden. Finanziert unter anderem von Saudi-Arabien, mit Wissen der USA, züchtete man Glaubenskämpfer heran, die dann den Taliban im Kampf dienten. Der Grund für den Erfolg der Madrasas war Armut – wenn paschtunische Familien nicht wussten, wohin mit ihren Kindern, dann schickte man sie auf die Schule, wo sie versorgt wurden. Irgendwer musste sie ja ernähren, unsere Kinder, erzählt mir eine Frau in Kandahar, deren Söhne alle auf Madrassas waren. Mehr möchte sie mir aber nicht sagen.

Die Taliban warten darauf, dass sie von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden. Wenn sie diese nicht bekommen, dann wird es hier noch schlimmer werden. Aber, die Welt darf die Taliban nur anerkennen, wenn sie die Auflagen erfüllen. Mädchen dürfen noch nicht zur Schule, Studentinnen nicht zur Universität. Die Bildungsinhalte sollen größtenteils islamisch sein. Ich bitte die internationale Gemeinschaft inständig, solange diese Auflagen nicht erfüllt sind, erkennt die Taliban nicht an!

Ein ehemaliger Journalist in Afghanistan

In Kandahar bekommen wir die Gelegenheit, uns in einer Taliban-Schule umzusehen. Der Leiter ist gerade sehr stolz. Es wird angebaut. Früher, erzählt er mir, wurden Madrasas von Regierungsbeamten und Polizisten gestürmt, heute könnten sie sich endlich in Ruhe den religiösen Studien hingeben. Ihn frage ich, was der Unterschied zwischen den Taliban heute und denjenigen des ersten Regimes in den 90er-Jahren sei. „Es ist natürlich, dass sich eine Person oder Leute im Laufe der Zeit ändern, dass die Menschen mehr Erfahrung sammeln. Zweitens waren die Taliban vorher nicht extremistisch, und auch jetzt nicht, die einzige Sache ist, wie andere die Taliban sehen. Manche sehen sie als Extremisten und manche sehen sie nicht-extremistisch. Aus meiner Sicht sind die Taliban aus den 90er-Jahren die gleichen wie heute, auch wenn einige alt oder verstorben sind, aber die Ideologie und das Ziel sind die gleichen.“

Die neuen Taliban? Natalie Amiris Reise nach Afghanistan zeigt: Ein Irrglaube des Westens

Und während man im Westen illusioniert von den Taliban 2.0 spricht, ist die Ideologie und die religiöse Überzeugung dieselbe wie vor 20 Jahren, das wird mir immer wieder bestätigt. „Die Taliban-Herrschaft der 90ern IST dieselbe wie heute“, sagt mir ein Afghane, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte. „Ich musste in der Schule einen Turban tragen, meine Schwester musste zuhause lernen, mein Vater unterrichtete sie. Auch mich, ansonsten wäre ich vielleicht auch ein Taliban geworden, denn unser Unterricht bestand aus islamischen Fächern. 80 Prozent der Fächer wurden mit islamischen Inhalten gefüllt. Viele aus dieser Zeit sind bis heute ungebildet, haben große Wissenslücken.“ Die Offiziellen versuchen mir in jedem Gespräch ein anderes, liberaleres Bild zu verkaufen.

Ein ehemaliger Journalist, der anonym bleiben will, sagt mir: „Bitte, gebe es weiter an die Verantwortlichen in der Politik: Die Taliban warten darauf, dass sie von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden. Wenn sie diese nicht bekommen, dann wird es hier noch schlimmer werden. Aber, die Welt darf die Taliban nur anerkennen, wenn sie die Auflagen erfüllen. Mädchen dürfen noch nicht zur Schule, Studentinnen nicht zur Universität. Die Bildungsinhalte sollen größtenteils islamisch sein. Ich bitte die internationale Gemeinschaft inständig, solange diese Auflagen nicht erfüllt sind, erkennt die Taliban nicht an!“

Große Protest-oder Widerstandbewegung gegen die Taliban gibt es nicht. Der Protest im Panjir-Tal* ist niedergeschlagen, die Proteste von Frauen zu Beginn der Machtübernahme ebenso. Wer in die Opposition zu den Taliban gehen möchte, schließt sich dem Daesh-K an. Und der wächst in Afghanistan, von Tag zu Tag. Auch, wenn die Taliban dies nicht zugeben. Die Sicherheit in Afghanistan wird jetzt nicht mehr bedroht durch die Taliban, sondern durch den afghanischen Ableger des IS- Daesh-K. (Natalie Amiri) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

7 Tage in Afghanistan: Afghan Diary von Natalie Amiri 

Uns allen sind die tragischen Bilder der Tage um den 30. August 2021 noch vor Augen, die den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan begleiteten. Tausende Menschen versuchten verzweifelt am Flughafen von Kabul in eines der Flugzeuge gen Westen zu gelangen, um auszureisen. Sie wollten nicht in einem wieder von den Taliban regierten Afghanistan leben. Die Wenigsten hatten das Glück, einen Platz an Bord zu bekommen. 

Seitdem regieren die Taliban das zerrissene und verarmte Land, dem nicht wenige Beobachter für diesen Winter eine humanitäre Katastrophe voraussagen. Natalie Amiri, internationale Korrespondentin, hat während ihres jüngsten Recherche-Aufenthaltes für ihr neues Buch (erscheint am 14.03.2022 ) in Afghanistan ein eindrucksvolles Tagebuch geführt. IPPEN.MEDIA veröffentlicht das Tagebuch ihrer Reise in sieben Teilen sowohl online als via Print in einigen Titeln wie dem Münchner Merkur oder der Frankfurter Rundschau.

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