Das Bingenheimer Ried trocknet aus - aber bei Nässe sterben ebenfalls Pflanzen
Zwei Probleme setzen dem Naturschutzgebiet Bingenheimer Ried heftig zu: eine Dürre und ein mysteriöses Pflanzensterben. Was das Schilf absterben lässt, ist umstritten.
Von Klaus Nissen
Braune Flächen hinterließ das Schilfsterben im Mai 2015 am Einlauf des Pfaffensee-Wassers ins Bingenheimer Ried. Foto: Roland
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ECHZELL - Zwei Probleme setzen dem Naturschutzgebiet Bingenheimer Ried heftig zu: eine Dürre und ein mysteriöses Pflanzensterben. Was das Schilf absterben lässt, ist umstritten.
Die Störche im Bingenheimer Ried finden neben ihren Nestern nicht mehr genug Nahrung. Sie müssen auf den Äckern der weiteren Umgebung nach Mäusen jagen, statt im Feuchtgebiet Frösche zu fangen. Im ehemaligen Feuchtgebiet. Denn das Ried westlich der Horloff zwischen Heuchelheim und Gettenau ist weitgehend ausgetrocknet. Auch die Regenfälle der letzten Tage haben daran nichts geändert. Gräser und kahle braune Flächen breiten sich da aus, wo die Satelliten von Google Maps vor Jahren noch eine ausgedehnte Wasserfläche fotografierten. "Das ist schon erschreckend", sagt Sven Schuchmann. "Es ist der Klimawandel", glaubt der Vorsitzende des Naturschutzbundes (Nabu) Bingenheim. Der Kiebitz, der Rothalstaucher und andere seltene Vögel, die Flachwasser brauchen, sind aus dem Ried verschwunden.
Könnte man nicht Wasser aus der Horloff abzweigen? Eine Grabenklappe öffnen und so das nebenan liegende Ried fluten? So einfach ist das nicht, sagt der ehrenamtliche Gebietsbetreuer und Naturschützer Udo Seum. Das Bewässerungssystem sei darauf nicht ausgelegt, und die Horloff führe nicht genug Wasser - sie sammle ohnehin weniger Niederschläge als etwa die Nidda. Nach einem längeren Regen im März habe man die Flutklappe geöffnet - doch das Wasser versickerte schnell im Boden. Hoffnung auf mehr Feuchtigkeit im Ried hat Udo Seum nur für den Fall anhaltenden Regens - und langfristig durch die Renaturierung der Horloff. Ein Planungsbüro arbeite daran, wie das kanalisierte Flüsschen in einen ursprünglicheren Zustand mit Schleifen, Inseln und abgeflachten Ufern zurückversetzt werden kann. Das könnte nach Norden von Reichelsheim bis zum Gettenauer Schützenhaus hin geschehen, wenn und falls dereinst alle Genehmigungen beisammen sind. Dann wäre auch ein Zufluss ins Ried, verbunden mit einer Solarpumpe, möglich.
Selbst wenn das Bingenheimer Ried wieder feucht wäre, würde trotzdem nicht überall das Schilf wachsen. Vor allem am Westrand sind die Pflanzen seit 2014 mehrfach abgestorben. Kahle, bräunliche Flecken breiteten sich aus. Über die Ursachen wird noch diskutiert. Der örtliche Jagdpächter Andreas Mohr verdächtigt die Nutrias, das Schilf abzufressen. Diese aus Südamerika stammenden Biberratten verbreiten sich seit etwa 1930 an deutschen Gewässern. Die bis zu zehn Kilogramm schweren und 65 Zentimeter langen Tiere sind dafür bekannt, mächtig Appetit auf Ufer-Röhricht zu haben.
HINTERGRUND
. Seit 1985 ist das Bingenheimer Ried zwischen Reichelsheim und Echzell ein Naturschutzgebiet - das Herzstück des Außenverbundes Wetterau. 1993 brütete dort erstmals wieder ein Storchenpaar. Mittlerweile sind alle acht Horste belegt. Für mehr als zehn Vogelarten stellt das Bingenheimer Ried ein wichtiges Brutgebiet dar. Für Kraniche, Kampfläufer, Gänse und andere Zugvögel dient es als Rastplatz. Hanns-Jürgen Roland hat 2018 einen Bildband über das Ried und seine Bewohner veröffentlicht.
. Der Teufel- und der Pfaffensee westlich vom Bingenheimer Ried sind nach dem Braunkohleabbau mit Grundwasser vollgelaufen. Mit den fünf Kilometer langen Uferzonen gelten sie seit 1998 als wichtige Teile des europäischen Biotopverbundsystems und Schutzgebietsnetzes "Natura 2000". An den Seen brüten Uferschwalben, Feldlerchen, Zwerg- und Haubentaucher. Auf einer künstlichen Insel sitzen gerade Mittelmeer-Möwen über ihren Eiern - das einzige Brutpaar in Hessen. (kni)
Udo Seum kann der Schilffras-Theorie von Andreas Mohr einiges abgewinnen. Er glaubt auch, dass die Graugänse kräftig beim Pflanzen-Vertilgen mithelfen. Viele dieser Vögel leben im Ried und westlich davon am Teufels- und Pfaffensee.
Doch es gibt einen Naturbeobachter, der eine ganz andere Ursache für das Verschwinden des Schilfs sieht: Das Wasser des Pfaffensees sei eine "Salzbrühe", meint Hanns-Jürgen Roland. Der 67-jährige Reichelsheimer beruft sich auf das Hessische Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG). Auf der Webseite dieser Behörde stehen bedenkliche Messergebnisse aus dem Jahre 2017: Demnach enthielt der See zwischen 191 und 216 Milligramm Kalzium pro Liter. Außerdem um die 170 Milligramm Magnesium und 910 Milligramm Sulfat. Das sind 10 bis 30 Mal so hohe Werte wie im Trais-Horloffer See. Insgesamt bewertete das HLNUG den 20 Hektar großen und durchschnittlich sieben Meter tiefen Pfaffensee als "polytroph" - was man als "umgekippt" bezeichnen könnte. Bei hohem Wasserstand läuft der See ins Bingenheimer Ried über.
Das Seewasser wurde nach Rolands Vermutung allmählich salzig, nachdem es in den 90er-Jahren einen Hangrutsch gegeben habe. Dabei sei wohl die sonst mit Lehm abgedeckte Schlacke der im Wölfersheimer Kraftwerk verbrannten Braunkohle für das Seewasser zugänglich geworden. Bei hohen Pegeln läuft es durch ein Kanalrohr unter zwei Äckern und der Kreisstraße zwischen Heuchelheim und Gettenau hindurch ins Bingenheimer Ried. Das Pflanzensterben breitete sich just von der Einmündung des Kanalrohrs im Ried aus, beobachtete Hanns-Jürgen Roland. 2014 sei es erstmals sichtbar geworden. Ende 2017 habe das Forstamt Nidda, das die Landschaft im Auftrag der Gemeinde Echzell pflegt, eine Verstopfung des Überlaufrohres bemerkt und es gereinigt. Da sei das Seewasser weit ins Ried geschossen. "Und 2018 gab es dann eine riesige Fläche, auf der nichts gewachsen ist." Hanns-Jürgen Roland schätzt sie auf etwa 15 Hektar.
Rolands Schlussfolgerung: Schilf könne im Ried erst wieder wachsen, wenn genug Regen- oder Horloffwasser auf die Fläche kommt und wenn das Wasser des Pfaffensees vom Ried ferngehalten wird. Zusätzlich könnten Bodenproben zeigen, wie stark die Erde am Westrand des Riedes versalzen ist.
Bodenproben wurden tatsächlich genommen, sagt Gebietsbetreuer Udo Seum. Doch sie hätten nichts ergeben. Der erfahrene Naturschützer macht keinen Hehl daraus, dass er Rolands These ablehnt. Gleichwohl versuche man weiter, die Ursache des Schilfsterbens herauszufinden. An drei Stellen setzte das Forstamt stählerne, am Boden offene Gitterkäfige auf den Boden. Wenn darin wieder Schilf wüchse, dann wäre die Nutria- und Graugansfraß-Theorie bewiesen. Doch im Käfig wächst nichts. Es müsste zuerst mal wieder regnen.